Rundgang Ketsch

Anekdoten und Geschichte(n): Ingrid Blem und Matthias Stieber, hier in der St. Anna-Kapelle, luden zum ortshistorischen Abendspaziergang ein.

KETSCH

ORTSGESCHICHTE BEI EINEM UNTERHALTSAMEN ABENDSPAZIERGANG DURCH DIE GEMEINDE NEHMEN MATTHIAS STIEBER UND INGRID BLEM IHRE GÄSTE MIT AUF ZEITREISE

Blick zurück – von Station zu Station

© Lenhardt

KETSCH.Die beleuchtete Krippe weist, auch fast vier Wochen nach Weihnachten, in der St. Anna-Kapelle den Weg. Immer wieder regnet es an diesem Abend, doch die wankelmütige Witterung hält die rund 40 Gäste nicht ab, am ortshistorischen Spaziergang durch die Enderlegemeinde und deren Denkmäler teilzunehmen.

Von der Kapelle zur Kirche

Als profunde Kenner der Geschichte sollten Nachtwächter und Stadtführer Matthias Stieber und Ingrid Blem die muntere Schar geschichtlich Interessierter an die Hand nehmen und an die verschiedenen Stationen führen.

Endpunkt der kleinen Wanderung war dann das „Michelfelders“, wo erst einmal eine Stärkung, dargeboten von Gabriele Hönig und Nina Schmidt, anstand und dann, anhand alter Fotografien aus dem schier unendlichen Fundus von Helmut Scholz und durch Zeichnungen von Ehrenbürger Robert Fuchs, das zuvor Gesehen vertieft werden wollte.

Im Licht des Vollmonds beleuchteten Stieber und Blem die Geschichte des kleinen Kapellchens an der Südseite des Friedhofs näher. „Eigentlich war es als Wallfahrtskirchlein gebaut worden“, so Stieber, stand ursprünglich in etwa dort, wo heute das Haus ist, in dem sich vormals das Gasthaus „Pflug“ befand. Errichtet wurde das Kirchlein vom Anwalt Bernhard Göck und seiner Ehefrau Maria Susanna im Jahr 1710 und diente lange Zeit, wie erwähnt, den Wallfahrern als Zwischenstation. Erst 1872 bezog die Kapelle den Standort auf dem Friedhof. Deren schützendes Dach verlassend ging es zunächst weiter zum Ehrenmal: „Im Ersten Weltkrieg fielen 86 Ketscher“, wusste Matthias Stieber zu berichten, „im Zweiten Weltkrieg waren es 273 Gefallene, 83 Männer galten als vermisst, sieben fanden den Tod im KZ“ – und weitere 13 Ketscher starben später in der Gefangenschaft.

Ingrid Blem erinnerte an die Fliegerangriffe, die auch Ketsch tangierten – Erzählungen, die sie noch von ihrer Großmutter überliefert bekam: „Eine besonders mächtige Granate schlug neben der Kirche etwa im Dreieck Gotteshaus/“Enderle“/“Wilder Mann“ ein und sorgte an den Gebäuden für zum Teil erhebliche Schäden.“

Gleichwohl Ketsch als Angriffsziel weit weniger interessant war als Mannheim und vor allem der Industrievorort Rheinau (Rüstungsindustrie!), „so gab es doch über 700 Fliegerangriffe der Royal Air Force, das ist für ein kleines Dorf wie Ketsch es war, recht viel,“ ergänzte Stieber. Vor allem flogen die Bomber über die Enderlegemeinde hinweg, weil sie auf der Rheininsel Munitionsbunker sowie eine Flak-Stellung vermuteten. Geschichtlich nicht minder informativ ging es auf dem Friedhof weiter mit der (fast) allen Ketschern bekannten Engelsskulptur – die zuvor auf dem Heidelberger Bergfriedhof stand – am Grab der Familie Knittel, bevor am Denkmal an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert wurde.

Allgemein, nahm Matthias Stieber den Faden auf zur Geschichte der jüdischen Mitbürger in Ketsch, seien diese erst relativ spät, im 18. Jahrhundert, registriert worden. Die Gemeinde war schon damals für ihre liberale Haltung bekannt, „so dass um 1850 44 Juden in Ketsch lebten“ – immerhin ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Auch habe es eine Synagoge gegeben, erklärte Stieber, man weiß sogar von der Existenz zweier zeitlich versetzt existierender Gotteshäuser, wobei die zweite, spätere Synagoge in der Hockenheimer Straße lag, „wohingegen der Standort der ersten bis heute nicht bekannt ist“. Das Kriegerdenkmal am ehemaligen (sehr zum Leidwesen der beiden Referenten des Abends nicht mehr existenten) „Scharfen Eck“ sowie das naheliegende Korbflechterdenkmal gaben weitere Anekdoten aus einer längst vergangenen Zeit preis.

Vor allem durch das Korbmacherhandwerk – meist im Nebenerwerb, teilweise aber auch im Hauptberuf – standen viele Ketscher Familien in Lohn und Brot. Ingrid Blem erinnert sich: „Bis 1961 gab es den letzten hauptberuflichen Korbflechter, danach ging er seiner Fertigkeit noch im Nebenerwerb nach.“ Um genug Rohstoff – Weideruten – für die Behältnisse zu bekommen, mussten auch Weidebestände außerhalb Ketschs genutzt werden – so etwa jenseits des Rheins, in Speyer und Waldsee. Nun ging es, mit weiterhin leichtem Regen als treuem Begleiter, durch die Schwetzinger Straße, als vor dem Gasthaus „Adler“ an die Veranstaltungen im dortigen Saalbau mit Willi Sommer (dem Entdecker der „Flippers“ und von Joy Fleming) nochmals lebendig wurden.

Als die ersten Gastarbeiter kamen

Gegenüber, im ehemaligen Gasthaus „Engel“, wusste Ingrid Blem, hatten die ersten Gastarbeiter aus Italien ihre Unterkunft, und an der Ecke Schwetzinger-/Schillerstraße stand früher die „Siggarfawwrik“, die später dann eine Zweigstelle der Mannheimer „Felina“ beherbergen sollte. „Und dahinter war der Farrenstall“, wusste Ingrid Blem, die selbst aus einer Landwirtsfamilie stammt.

Eine Bronzeplatte, die den Enderle zeigt und den letzten Überrest einer einstmals stolzen Brunnenanlage darstellt, war eine der nächsten Stationen, bevor der Reliefstein an der Südseite des Hauptportals der katholischen Kirche, dessen zeitliche Einordnung Matthias Stieber auf das 14. Jahrhundert schätzt, von längst vergangener Zeit erzählte – ebenso der Ende der 90er Jahre abgerissene „Wilde Mann“, der, ehedem Brauerei, über einen zweistöckigen unterirdischen Eiskeller verfügte. „Das Gebäude, das ihn ersetzte, ist in meinen Augen suboptimal“, sagte Matthias Stieber am Ende eines interessanten und unterhaltsamen ortshistorischen Spaziergangs.

© Schwetzinger Zeitung, Samstag, 18.01.2014

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